Nach monatelangen Verhandlungen hat Österreich eine neue Regierung aus ÖVP, SPÖ und NEOS. Die Koalition verspricht Stabilität und Fortschritt, doch ein genauer Blick ins Regierungsprogramm offenbart auch bedenkliche Punkte – insbesondere im Bereich Cyberkriminalität.
Ein besonders heikler Punkt: die „Individualisierungspflicht“ für öffentliche IP-Adressen. Im Klartext bedeutet das, dass Internetprovider verpflichtet werden sollen, jedem Anschluss eine feste IPv6-Adresse zuzuweisen. Ziel ist es, Kriminelle im Netz leichter identifizieren zu können. Doch was bedeutet das für den Datenschutz und die Privatsphäre der Bürger?

(Bild 1: Ausschnitt aus dem Koalitionspapier zur Individualisierungspflicht)
Die Maßnahme könnte sich als zweischneidiges Schwert erweisen: Zwar würde die Strafverfolgung erleichtert, doch gleichzeitig würde damit ein permanenter digitaler Fingerabdruck für alle Internetnutzer geschaffen. Ein Szenario, das erhebliche Auswirkungen auf Datenschutz, Online-Anonymität und die Geschäftsmodelle großer Internetkonzerne haben könnte.
Hintergrund zu IPv6
Das Internet läuft aktuell auf einem Mischbetrieb aus IPv4 und IPv6. Der Hauptgrund für den Wechsel zu IPv6 ist die schlichte Erschöpfung der IPv4-Adressen: Das bisherige System, das mit 32-Bit-Adressen arbeitet, kann maximal 4,3 Milliarden eindeutige IP-Adressen verwalten – zu wenig für die heutige Welt mit Milliarden von Geräten, Smartphones, Smart Homes und IoT-Anwendungen.
IPv6 erweitert diesen Adressraum mit einer 128-Bit-Adressierung auf eine unvorstellbare Anzahl von 340 Sextillionen Adressen (eine Zahl mit 39 Stellen). Damit hat jeder Menschen auf der Erde weitaus mehr Adressen zur Verfügung als es jetzt IPv4 für die gesamte Erde bietet. Auch Sandkörner oder die Quadratzentimeter der Erdoberfläche sind kein passender Vergleich. Erst beim Volumen wird es griffig: Man könnte jedem Kubikmillimeter der Erde noch immer mehrere hundert Millionen IPv6 Adressen zuordnen.
Bisher war es üblich, dass Privatnutzer dynamische IPv4-Adressen erhielten – das bedeutet, dass sich die IP-Adresse regelmäßig änderte und somit keine dauerhafte Zuordnung möglich war. Mit der geplanten Individualisierungspflicht soll sich das nun ändern: Jeder Internetanschluss und damit jeder Haushalt, aber auch jedes Handy soll eine dauerhafte IPv6-Adresse erhalten.
Was das bedeutet? Eine eindeutige, womöglich lebenslange Identifikationsnummer für jede Online-Aktivität.
Tracking ohne Cookies – Ein Paradies für Datenkraken
Bislang waren große Internetunternehmen wie Meta, Google oder Amazon darauf angewiesen, Nutzer durch Cookies, Fingerprinting oder andere Tracking-Methoden zu identifizieren. Diese Methoden wurden durch gesetzliche Vorgaben wie die DSGVO und technische Maßnahmen (z. B. Tracking-Blocker) erschwert.
Doch mit einer fest zugewiesenen IPv6-Adresse entfällt dieser Umweg:
- Wer mit einer permanenten IP-Adresse surft, ist jederzeit identifizierbar – ohne Cookies oder versteckte Scripts.
- Jede Website, jeder Dienst, jede App kann sofort erkennen, welche IPv6-Adresse anfragt – und damit, welcher Nutzer dahintersteckt.
- Tracking-Unternehmen müssen keine Fingerprinting-Techniken mehr anwenden, weil die eindeutige IP-Adresse selbst zur permanenten User-ID wird.
Für Unternehmen wie Google oder Meta ist das ein Geschenk: Statt aufwändiges Tracking zu betreiben, könnten sie einfach die IPv6-Adresse als dauerhafte Nutzerkennung verwenden. Ein einfacher Datenbankeintrag reicht aus, um das Surfverhalten einer Person über Jahre hinweg zu verfolgen – selbst über verschiedene Geräte hinweg, wenn diese mit demselben Router verbunden sind.
Das Problem: Diese Art von Identifizierung wäre nicht nur für Behörden, sondern auch für private Datenhändler nutzbar. Unternehmen oder Werbenetzwerke bauen solche Datenbanken bereits auf, aber nunmehr noch viel einfacher?
Ist das wirklich notwendig?
Die geplante Maßnahme soll helfen, Kriminalität im Internet zu bekämpfen. Doch ist sie wirklich notwendig?
Schon heute können Behörden über die Internetprovider ermitteln, welcher Anschluss hinter einer IP-Adresse steckt – allerdings nur mit richterlichem Beschluss und nur für eine gewisse Zeit. Das bedeutet, dass nur bei einem konkreten Verdacht und nach einer juristischen Prüfung die Identität eines Internetnutzers offengelegt wird.
Mit der verpflichtenden festen IPv6-Zuordnung ändert sich das Gleichgewicht radikal:
- Datenbanken entstehen, die das Surfverhalten von Menschen über Jahre hinweg problemlos verknüpfen.
- Private Unternehmen werden diese Informationen kommerziell nutzen.
- Die (Pseudo-)Anonymität des Internets würde weiter schwinden – was dem Grundrecht auf Privatsphäre widerspricht.
Europa hat sich mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) eigentlich klar zum Schutz der Privatsphäre bekannt. Die geplante IPv6-Zuordnung steht damit in einem direkten Spannungsverhältnis zu den geltenden Datenschutzprinzipien.
Umgehungsmethoden für Kluge – gefangen werden nur die Dummen
Natürlich gibt es Mittel und Wege, um dieser festen IP-Zuordnung zu entkommen:
- VPNs und Proxies können genutzt werden, um die wahre IP-Adresse zu verbergen.
- Tor-Netzwerk ermöglicht anonymes Surfen.
Das Problem: Diejenigen, die tatsächlich etwas zu verbergen haben – Kriminelle, Hacker, professionelle Cyberangreifer – wissen längst, wie sie sich anonymisieren können.
Stattdessen trifft die Individualisierungspflicht die breite Masse der Internetnutzer, die sich über solche Mechanismen keine Gedanken macht.
Doppelmoral in der Digitalpolitik
Während sich die neue österreichische Regierung in ihrem Koalitionspapier verpflichtet, die Rechte von Konsumentinnen und Konsumenten im Netz auszubauen, mehr Transparenz über Algorithmen zu schaffen und Gefahren der Massenüberwachung zu verhindern, schafft sie gleichzeitig mit der Zwangsindividualisierung von IPv6-Adressen ein System, das genau diese Rechte und Freiheiten untergräbt.
Rechte von Konsumentinnen und Konsumenten im Netz ausbauen
Transparenz betreffend Algorithmen und die Verwendung von Daten von Userinnen und Usern auf Plattformen gewährleisten und Gefahren der Massenüberwachung von Bürgerinnen und Bürgern verhindern.
Wehrhafte Demokratie & starker Rechtsstaat
Wir wollen unsere liberale Demokratie sichern und zeitgemäß weiterentwickeln. Ein moderner, starker Rechtsstaat ist mit seinen Grund- und Freiheitsrechten Rückgrat unseres Staatswesens und unserer Gesellschaftsordnung.
(Bild 2: Ausschnitte aus dem Koalitionspapier)
Mit einer dauerhaft zugewiesenen IPv6-Adresse verliert jeder Bürger seine digitale Pseudonymität. Die großen Datenkonzerne müssen nicht einmal mehr auf Cookies oder aufwendige Fingerprinting-Methoden zurückgreifen – die feste IP-Adresse macht jeden Nutzer zu einem offenen Buch, lesbar für Werbeindustrie, Datenhändler und Regierungen.
Doch es wird noch widersprüchlicher. Dieselben Politiker, die den Datenschutz propagieren, schreiben einige Seiten weiter, dass sie eine wehrhafte Demokratie und einen starken Rechtsstaat auf Basis von Grund- und Freiheitsrechten wollen.
Wie genau soll das funktionieren, wenn ihre Bürger online dauerhaft gläsern gemacht werden? Was bleibt von „Grundrechten“, wenn das Surfen im Internet durch eine fixe Identifikationsnummer für Behörden und Unternehmen komplett transparent wird?
Es ist eigentlich eine politische Farce: Während Bürgerinnen mit DSGVO-Checkboxen und Cookie-Warnungen vor angeblich gefährlichem Tracking „geschützt“ werden, will die Regierung ein System, das uns online eindeutig identifizierbar und überwachbar macht.
- Transparenz für Algorithmen? Ja – aber auch für das Surfverhalten.
- Schutz vor Massenüberwachung? Natürlich – außer wir ordnen sie selbst an.
- Freiheitsrechte? Selbstverständlich – solange sie nicht im Widerspruch zur politisch gewollten Überwachungsagenda stehen.
Mit dieser IPv6-Zwangsmaßnahme schafft die Regierung ein digitales Überwachungswerkzeug, das sich später nur schwer zurücknehmen lässt. Und: Eine einmal festgelegte Infrastruktur zur eindeutigen Identifikation kann mit ein paar Gesetzesänderungen leicht zu einer lückenlosen Überwachung ausgebaut werden.
Fazit: Grundrechte in Sonntagsreden verteidigen und sie in der Praxis abbauen
Die Idee hinter der Maßnahme ist nachvollziehbar: Cyberkriminalität soll besser bekämpft werden. Doch die fixen IPv6-Adressen setzen an der falschen Stelle an – denn während sich Kriminelle mit VPNs oder Proxys problemlos tarnen können, trifft die Maßnahme vor allem normale Bürgerinnen und Bürger, die sich nicht aktiv schützen können.
Wenn die Regierung es ernst meint mit dem Schutz vor „Massenüberwachung“ und der Wahrung von Freiheitsrechten, sollte sie den geplanten IPv6-Zwang noch einmal kritisch überdenken. Richtig wäre:
- Dynamische IPv6-Präfixe statt fixer Adressen, wie es viele Provider bereits jetzt praktizieren.
- Privacy Extensions als Standard, um eine zufällige und wechselnde Adressgenerierung zu gewährleisten.
- Strenge gesetzliche Vorgaben, die es unter Strafe stellen, IPv6-Adressen als permanente User-ID zu missbrauchen.
Das Internet soll sicherer werden – aber nicht auf Kosten unserer digitalen Freiheitsrechte. Denn eine Demokratie bleibt nur dann wehrhaft, wenn sie sich nicht selbst der Grundrechte beraubt, die ihr Fundament bilden.
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Vizepräsident der Digital Society. Fan der direkten Demokratie. Professionelle i-Tüpfelreiterei und Besserwisserei. Sicherheitsexpertisen. Open-Source-Entwicklung. Physik. Jus-Studium. Home-Office-Worker. he/him
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